Mai 232012
 

EU-BürgerInnen, die ein Verbrechen nach Artikel 83[1] des Vertrags über die Arbeitsweise der Union (AEUV) begangen haben, können von einem Aufnahmemitgliedstaat abgeschoben werden, selbst wenn die betroffene Person seit mehr als zehn Jahren dort lebt. Nach einem Urteil (C-348/09) des Europäischen Gerichtshof (EuGH) wird die Abschiebung allerdings nur dann als gerechtfertigt gesehen, wenn das persönliche Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Das Oberveraltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen ersuchte den EuGH um Auslegung des Begriffs der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit, mit denen die Ausweisung eines Unionsbürgers gerechtfertigt werden kann, der sich seit mehr als zehn Jahren im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält. Die deutschen Behörden entzogen am 6. Mai 2008 einem italienischen Staatsangehörigen, der seit 1987 in Deutschland lebte, das Recht, auf Einreise und Aufenthalt. Herr I. wurde 2006 wegen sexuellen Missbrauchs, sexueller Nötigung und Vergewaltigung eines zu Beginn der Taten acht Jahre alten Mädchens zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine Haftstrafe endet voraussichtlich im Juli 2013, um eine Abschiebung zu vermeiden, ging er gegen den Bescheid gerichtlich vor.

In seinem Urteil führt der Gerichtshof aus, dass der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit nicht nur voraussetzt, dass eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit vorliegt, sondern auch, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist; dies kommt im Gebrauch des Begriffs „zwingende Gründe“ zum Ausdruck.

Den Mitgliedstaaten steht es im Wesentlichen weiterhin frei, nach ihren nationalen Bedürfnissen – die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können – zu bestimmen, was die öffentliche Sicherheit erfordert. Jedoch sind diese Anforderungen, insbesondere wenn sie eine Ausnahme vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit rechtfertigen sollen, eng zu verstehen, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Europäischen Union bestimmt werden kann.

Bei der Klärung der Frage, ob Straftaten wie die von Herrn I. begangenen unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen, ist zu berücksichtigen, dass die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu den im Vertrag ausdrücklich genannten Bereichen besonders schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension zählt, in denen der Unionsgesetzgeber tätig werden kann.

Es steht den Mitgliedstaaten frei, Straftaten wie die in Art. 83 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann. Allerdings kann mit solchen Straftaten eine Ausweisungsverfügung nur dann gerechtfertigt werden, wenn die Art und Weise ihrer Begehung besonders schwerwiegende Merkmale aufweist; dies ist vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des konkreten Falls, mit dem es befasst ist, zu klären.

Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass der Aufnahmemitgliedstaat, bevor er eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet dieses Staats, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in diesem Staat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen hat.



[1] Der Artikel umfasst folgende Kriminalitätsbereiche: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität.